J.-D. Morerod u.a. (Hrsg:): Guillaume Tell

Cover
Titel
Guillaume Tell et la Libération des Suisses.


Herausgeber
Morerod, Jean-Daniel; Anton, Näf
Reihe
Pour mémoire
Erschienen
Lausanne 2011: Société d’histoire de la Suisse romande
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
ISBN
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Bernd Giesen, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Geschichte, Universität Bielefeld

Der überaus gelungene Sammelband entstand unter der Leitung des Historikers Jean-Daniel Morerod und des Germanisten Anton Näf. Ziel des Bandes ist nach den eigenen Worten der beiden Neuenburger Herausgeber die historiographische Aufbereitung und Vermittlung der im 15. Jahrhundert aufkommenden Geschichte von Wilhelm Tell und der Befreiung der Eidgenossen von den Habsburgern. Das Buch richtet sich an ein breites Publikum in der Romandie, das sich bisher erstaunlicherweise mit einer (jedenfalls im Vergleich zur deutschen Schweiz) recht bescheidenen historiographischen Aufarbeitung und sehr vereinzelten, meist unvollständigen und veralteten Übersetzungen der lateinischen und deutschsprachigen Originalquellen begnügen musste.

Inhaltlich geht es Morerod und Näf vor allem darum, ihren Lesern die Bedeutung der Tell-Geschichte als historischer Mythos näherzubringen. In ihrer Einleitung machen sie deutlich, dass sich die heutige Forschung nicht mehr mit der Frage nach der realen Existenz von Wilhelm Tell beschäftigt, die längst in Zweifel gezogen und bereits erschöpfend diskutiert worden ist. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, inwieweit die Tell-Geschichte realpolitische Ereignisse aus der beschriebenen Gründungszeit der Eidgenossenschaft (um 1300) verarbeitet. Viel wichtiger sei es hingegen, den Zeitpunkt der Entstehung und Verschriftlichung des Tell-Mythos in den Blick zu nehmen. Denn hier lasse sich ein Schlüssel zum politischen Selbstverständnis der Alten Eidgenossenschaft finden, die sich damals als politischer Verbund allmählich konsolidierte und schon ungefähr das gleiche Territorium umfasste wie die heutige Schweiz.

In methodischer Hinsicht beschreitet der Band gewiss kaum neue Wege. Mit Blick auf das anvisierte grössere Lesepublikum war es aber sicher klug, einen eher konventionellen Ansatz zu wählen, der sich in einer überwiegend klaren und gut nachvollziehbaren Gliederung umsetzen liess. Der erste Teil des Bandes enthält (meist ganz neu angefertigte) französische Übersetzungen sämtlicher in Chroniken, Theaterstücken, Liedern usw. überlieferten Textpassagen zur Tell-Geschichte aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert, jeweils ergänzt durch eine Reihe von nützlichen Erklärungen und Kommentaren zum historischen und literarischen Entstehungskontext. Dieser sorgfältig bearbeitete Quellenteil bezieht schon die ersten rudimentären Darstellungen der eidgenössischen Befreiungsgeschichte aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein. Sie finden sich unter anderem in der Berner Chronik von Conrad Justinger und in Felix Hemmerlis Dialog über Adel und Bauernstand; und sie kommen noch ohne Tell oder andere Heldengestalten aus. Es folgen die Tell-Erzählungen und –Erwähnungen im Weissen Buch von Sarnen (um 1472), in den ersten eidgenössischen Chroniken von Melchior Russ, Petermann Etterlin, Diebold Schilling und Heinrich Brennwald, im Tellenlied und Tellenspiel sowie in diversen humanistischen und reformatorischen Schriften, darunter Glareans Beschreibung und Lobrede auf die Eidgenossenschaft, Myconius’ Kommentar zu Glareans Werk und Zwinglis Reaktion auf die Apologie des katholischen Glaubens des Urner Landschreibers Valentin Compar. Der Quellenteil endet in der Zeit 1525–1530. Die Herausgeber begründen den zeitlichen Einschnitt damit, dass die Tell-Überlieferung nunmehr unüberblickbar geworden und deshalb eine vollständige Wiedergabe der Quellen nicht mehr möglich gewesen sei. Eine einseitige Betrachtung der eidgenössischen Tell-Erzählungen vermeiden sie, indem sie ihnen mehrere literarisch verwandte Erzählungen aus anderen Regionen vergleichend gegenüberstellen, von denen die Toko-Geschichte des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus aus dem 13. Jahrhundert nur das bekannteste Beispiel darstellt.

Der zweite, etwas umfangreichere Teil des Bandes enthält zum einen eine Reihe von gut lesbaren kürzeren Beiträgen zur literarischen Ausgestaltung und Entwicklung des Tell-Stoffes im 15. und 16. Jahrhundert (Jean-Daniel Morerod, Rolf Duffner und Anton Näf), zum humanistischen Umgang mit dem Tell-Mythos (David Amherdt) sowie zur weiteren literaturgeschichtlichen Rezeption bis ins 20. Jahrhundert (Anton Näf). Besonders ans Herz gelegt seien dem Leser die beiden umfangreicheren Beiträge von Jean-Daniel Morerod und Marco Wyss, die das Blickfeld wesentlich erweitern. Morerod zeichnet die historischen Debatten um die Herkunft und Authentizität der Tell-Geschichte bis ins 18. Jahrhundert detailliert nach und bringt ihre politische Inanspruchnahme in mehreren sozial- und politikgeschichtlichen Kontexten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Sprache, wie etwa im schweizerischen Bauernkrieg von 1653, als drei untergetauchte Bauernführer ein Attentat auf die Luzerner Obrigkeit ausübten und sich zur Rechtfertigung ihrer Tat in die Tradition von Wilhelm Tell stellten. Wyss’ Beitrag verfolgt die politischen Tell-Debatten weiter bis in die heutige Zeit. Darüber hinaus skizziert er kritisch die neueren historiographischen Debatten um die sozialgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der Tell-Geschichte. Während Guy P. Marchal in seinen langjährigen Forschungen zur Erkenntnis gelangt ist, dass es neben den ersten literarischen Zeugnissen des 15. Jahrhunderts schon lange eine breitere mündliche Tradition der Heldensage gegeben haben muss, geht der neuere Ansatz von Walter Koller davon aus, dass es sich bei der Geschichte in erster Linie um ein humanistisches Märchenkonstrukt handelt. Kollers zweifellos überspitzte These vermag Wyss mangels «konkreter Beweise» nicht zu überzeugen. Immerhin hat sie den Blick auf durchaus interessante komplementäre humanistische Überlieferungs- und Entstehungswege der Tellgeschichte frei gemacht.

Zwischen den literatur- und politikgeschichtlichen Abhandlungen präsentiert der Band etwas losgelöst von den anderen Quellentexten einen äusserst spannenden Fund aus dem Neuenburger Staatsarchiv, der auch das engere Fachpublikum aufhorchen lassen dürfte. Es handelt sich hierbei um nichts weniger als den ersten überlieferten Versuch, eine französischsprachige Fassung des Tellenspiels zu erstellen, das in der Innerschweiz seit 1512/13 aufgeführt wurde. Lionel Bartolini hat den Text transkribiert und herausgefunden, dass Pierre Chambrier die Übersetzung höchstwahrscheinlich zwischen 1565 und 1571 aus eigener Initiative in Angriff genommen hat, als er nach Abschluss seiner Tätigkeit als Kanzler beim Neuenburger Regierungsrat in den Ruhestand gegangen war. Dieser Übersetzungsversuch stellt zusammen mit einer weiteren im Band wiedergegebenen Bild-Darstellung der Apfelschussszene auf einem Neuenburger Steuerdokument aus dem Jahr 1571/72 tatsächlich ein beachtliches frühes Zeugnis für die Tell-Rezeption in der Romandie dar.

Sehr interessant sind auch die (im Nachwort leider etwas knapp geratenen) Überlegungen der Zürcher Historiker Simon Teuscher und Rainer Hugener zu den Unterschieden im Umgang mit den eidgenössischen Gründungsmythen auf beiden Seiten des sogenannten Röstigrabens, der die Deutschschweiz von der Romandie trennt. So stellen sie beispielsweise fest, dass der Name Wilhelm beziehungsweise Guillaume Tell in der Romandie im 19. Jahrhundert deutlich früher als in der Deutschschweiz als Name von öffentlichen Orten wie Strassen, Plätzen oder auch den Dampfschiffen auf dem Genfer See Verwendung fand. Wie sehr der Tell-Mythos bis heute in der Romandie ähnlich wie in der Deutschschweiz präsent geblieben ist, zeigt sich nicht zuletzt am grossen öffentlichen Interesse, das die Tell-Ausstellung auf sich gezogen hat, die im vergangenen Herbst und Winter begleitend zur Publikation dieses Bandes im Neuenburger Kunst- und Geschichtsmuseum zu sehen war.

All dies sind wirklich gute Voraussetzungen dafür, dass der Band in der Romandie auf grosse Resonanz stossen wird. Angesichts seiner ausgesprochen guten handwerklichen Qualität und seiner insgesamt überzeugenden inhaltlichen Stringenz ist ihm dies auch in den anderen Landesteilen und ausserhalb der Schweiz ausdrücklich zu wünschen.

Zitierweise:
Bernd Giesen: Rezension zu: Jean-Daniel Morerod, Anton Näf (dir.): Guillaume Tell et la Libération des Suisses. Lausanne, Société d’Histoire de la Suisse Romande, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 343-345

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 343-345

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